ENT-SORGEN

Eine typisch schweizerische Gepflogenheit und ein wichtiges Ereignis im wöchentlichen Alltag, ist das Entsorgen von Abfall am Samstagmorgen.

Entsorgen ist bei uns beileibe nichts, dass man so schnell mal nebenher tut, nein, das geordnete Wegwerfen von Altlasten ist eine verordnete schweizerische Lebenseinstellung.

Haben wir im Alltag immer mal wieder die eine oder andere Sorge darüber, was die Nachbarin zu den schreienden Kindern in der schweizweit verordneten Mittagsruhe oder dem zum Ausladen vor der Haustüre abgestellten Auto abseits des eingezeichneten Parkfeldes sagen würde oder welches Urteil der Schwiegervater wohl über einen fällen könnte, würde er vom Rasenmähen um die Mittagszeit erfahren, ist das ENT-SORGEN unglaublich entspannend und sorgenfrei, weil sorgsam definiert, klar verlangt und angeschrieben!

Beim ENTSORGEN gewinnen ALLE!

Wir sparen Geld, schaffen Platz, bleiben sauber, haben Rechte, verteilen Werte… Und beim Wegfahren gibt’s ‘nen Stempel: Gut-Mensch!

Perfekt, oder?

Für mich als psychologisch interessierte Geschichtensammlerin beinhaltet das schweizerische Entsorgungsverhalten und die samstägliche Fahrt zur «Sammelstelle» tatsächlich neben der Entledigung meines Abfalls auch ein Beschaffen von Rohmaterial! Und wenn Sie mich in Gedanken bereits beim «Im-Müll-wühlen» ertappen, haben Sie nur im übertragenen Sinne und das auch nur teilweise Recht: Ich sammle Wissen über das schweizerische Miteinander, über Werte, Vorstellungen und Verhaltensweisen.

Wertstoffsammelstelle, gell!

Sodann, ich treffe mich also am Samstag mit «Herrn und Frau Schweizer*» beim WEGWERFEN.

*Ich schreibe hier bewusst nicht eine momentan aktuelle «politisch korrekte Formulierung für was auch immer» hin, da ich ansonsten während des Schreibens meines gesamten Textes irgendwelchen Argumenten und Schreibweisen hinterherhecheln müsste, die irgendjemandem suggerieren würden, dass Politiker, Wortlaute oder vereinfachende oder gar biologische Verallgemeinerungen richtig oder eben falsch angesetzt seien und ich in der intellektuell übergeordneten Lage wäre, darüber zu bestimmen. (Oder aber in der devot untergeordneten Position, mir entsprechende Vorschreibungen machen zu lassen und das fände ich noch schlimmer, tja!) Also habe ich für mich beschlossen, dass SIE und ICH, liebe Leser, wir alle also, für die Interpretation meiner Worte und auch für unser eigenes Glück spätestens ab hier selber verantwortlich sind.

Echt toll, oder?

Wobei ich an dieser Stelle und bevor wir zum Schauplatz «Altlasten-SAMMELSTELLE» zurückkehren, unbedingt zwischen dem sogenannten Haushaltskehricht und dem alltagspsychologisch verwendeten Begriff seelischer Bürden (Altlasten)unterscheiden möchte: Bei Ersterem handelt es sich offenbar um WERTSTOFFE, welche wiederverwendet werden müssen, wohingegen wir dem seelischen Verwandten oft nicht mit ähnlich freundlich aufmunterndem Wohlwollen begegnen, sondern fordern, dass diese als Komplikation erkannt und verarbeitet, im Sinne von aufgelöst werden sollen!

Unglaublich spannend, was?

Also: Es herrscht geschäftiges Treiben auf dem Areal. Vollbepackte Autos unterschiedlicher Grössen und Preisklassen werden von ihren unentwegt freundlich nach rechts und links lächelnden Fahrern vorsichtig und im Schritttempo ordentlich auf die markierten Parkfelder gelenkt. Ob BMW, Mitsubishi oder Ford, überladen sind sie alle und beim Müllentsorgen werden keine Unterschiede gemacht: es herrscht eine traute Aura «geschützten WIR-Gefühls»!

Unvorstellbar, dem Trottel vor mir in der wartenden Autoschlange mit erhobener Stimme oder dröhnender Hupe zu verstehen zu geben, dass nach zwanzigminütiger Wartezeit ein Fensterscheiben-Schwätzchen mit dem zufällig hier angetroffenen Nachbarn ABSOLUT unangebracht ist oder wenn-schon-denn-schon NACH dem Einparken ins endlich freie Parkfeld zu erfolgen hat…mein für die Einfahrt geplantes Lächeln gelingt etwas schief…

Ich steige aus meinem Auto aus und ins Geschehen ein:

Wohlwollend und mit engagiertem Blick gewährt mir die Mitdreissigerin in Businessklamotten, perfekt makeupierter Vorderfront und rassiger Figur sofort den Vortritt, als ich mich mit meiner tonnenschweren Riesenkiste voll zu entsorgender Wein- und Proseccoflaschen zum Altglas schleppe: «Bei den Bio-Saucen sind neu die Gläser nur noch halb so schwer, machen Sie nur, ich hab’ nicht viel!»

Fröhlich kompetent hechtet der Hippster meinem fast schon unter der Walze verschwundenen Stapel alter Zeitungen nach und wedelt nach dem Auftauchen strahlend mit einem durchsichtigen Streifen Plastikhülle: «Huiii, schauen Sie, UM EIN HAAR hätten WIR das hier nicht GESEHEN!»

«Maaaamiiiii, weshalb hat DIE FRAU DA FINKEN an?!?!» Kein Problem für mich, dass der nette Junge mit den Detektivaugen und dem etwas zu kleinem Gesicht zwischen den eindrücklichen Ohren, neben mir bei den Altkonserven steht und seine Entsorger-Mutter am anderen Ende des Platzes bei der Altkleidersammlung. Auch kein Problem, dass aufgrund des kindlichen Rufes gefühlte fünfzig Augenpaare freundlich interessiert auf meine Füsse starren…

Wie schön es hier ist, am Samstagmorgen, unter uns «Gut-Menschen», ich brauche mich WIRKLICH nicht zu erklären! Niemand masst sich ein Urteil darüber an, dass, nachdem ich endlich den Kofferraumdeckel über der eindrücklichen Fülle an Kartonschachteln schliessen konnte, (welche selbstredend all meinen Mitentsorgern von meiner regen Bestelltätigkeit Bände erzählen würde,) ich alle Hände und Füsse voll damit zu tun hatte, dem aufkeimenden Schimmer schlechten Gewissens über meine Abfallberge schnellstmöglich die Wurzeln zu kappen. Aufgeflackert im Wissen, dass die nachhaltigste Entsorgung die ABFALLVERMEIDUNG wäre und sich (andere) Menschen zur Veranschaulichung dieser Themen unter anderem auf die Strasse KLEBEN…hhmmmm!

Irgendwie leidenschaftlich, nicht wahr?

Somit hatte ich also keine Zeit, meinen «Schuhwerk-Fehler» lange vor dem Aussteigen zu bemerken. (Und Umdrehen war keine Option, das mit der Autoschlange habe ich ja schon beschrieben!)

 «Lass nur, Schätzli, DAS ISCH GLIIIICH, man soll nicht vom Aussehen einer Person auf ihren Charakter schliessen, DIÄ MACHT DIR SICHER NÜÜÜÜT!!«

Ab da fand ich das Lächeln anstrengend…

…selbst als schweizerische Gepflogenheiten sammelnder Mit-Gut-Mensch!

Eindrücklich, oder?

Ein Kommentar zu „ENT-SORGEN

  1. Leider gehe ich nie an einem Samstagmorgen, sondern nur unter der Woche dort hin – ist viel entspannter. Darum wahrscheinlich auch der Grund warum wir uns noch nie bei der Sammelstelle getroffen haben. 🙂

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